SUV am Morgen

Ein Zwielichtgedanke

Ich liege an einem frühen Januarmorgen wach im Bett. Der Radiowecker zeigt Viertel vor sechs. Im Dachflächenfenster über mir erstrahlt der morgentliche Sternenhimmel, denn es ist eine eiskalte, klare Nacht. Direkt über mir im Zenith steht der Große Wagen. Ich genieße den beeindruckenden Anblick und sinne so vor mich hin, ganz in Klimaquengler-Manier, dass der Große Wagen schon ganz schön groß ist, quasi ein Himmels-SUV. In dem Augenblick betritt ein heller Punkt mein Sichtfeld, wandert schnell über den Himmel und kreuzt den Großen Wagen, als ob er ihn durchstreichen möchte. Gibt es auch am Himmel kein Recht, einen SUV zu fahren? Schon kommt ein zweiter Lichtpunkt herbei und streicht kreuzweise ebenfalls über das Sternbild. Ich reibe mir die Augen. Dass man in den Abend- oder Morgenstunden Satelliten über den Himmel streichen sieht, beschienen von der flach unter dem Horizont stehenden Sonne (fast wie Flugzeuge aber kleiner und ohne Blitzlicht), ist nicht ungewöhnlich. Dass aber gleich zwei nahezu gleichzeitig meine Himmels-SUV-Gedanken durchkreuzen ist nicht alltäglich. (Im Internet kann man es nachprüfen: Es waren am 2020-02-21 05:46 MET die Raketenstufe Cosmos 1696 aus UdSSR-Zeiten sowie der US-amerikanische Aufklärungssatellit USA 247). Meine Gedanken gehen weiter spazieren. Heute hat eine gute Bekannte Geburtstag. Im Büro sind ein paar Entscheidungen fällig. Wer holt heute Abend die Mädels vom Fußballtraining ab? Der Große Wagen steht noch immer friedlich und unendlich geduldig über mir. Gestern habe ich auch gelernt, dass Extinction Rebellions niemals über SUV-Fahrer herziehen würden, denen sie möchten nicht den Einzelnen, sondern das System anprangern. Ja, sicher sind SUVs ein symbolisches Feindbild der Klimaaktivisten. SUV-Bashing ist en vogue. Auch ich kann mich beim Anblick eines Q8, X5, GLE, oder wie sie alle heißen, nicht eines Protzgedankes erwehren. (Funfact: Wenn man das Typenschild eines Mercedes GLS 450d umdreht, ist eindeutig „posh“ zu lesen.) Dabei werden doch die meisten SUVs auf der Straße angeschafft worden sein, als man beim Namen Greta noch an Garbo, Gerwig o. ä. dachte. Und eigentlich verbrauchen sie ja auch nur ca. 10 % mehr Sprit, so dass eine zurückhaltender SUV-Fahrer besser ist, als ein Mittelklasse-Raser.

Aber 2019 sind laut Neuzulassungszahlen mehr SUVs zugelassen worden, also je zuvor. Ist das alamierend? Jein. Zum einen ist auch der SUV-Anteil an Modellen stark gestiegen. Wenn man also zufällig ein beliebiges Auto kaufen würde, käme man viel wahrscheinlicher zu einem SUV. Zum Zweiten hat sich auch der Begriff SUV gewandelt: Wer früher einen Golf Plus gekauft hat, kauft heute einen T-Cross. Die Autohersteller nennen im Zuge des SUV-Hypes heutzutage bald alles einen SUV, was nicht unter der Parkhausschranke durch passt.

Dennoch bleibt die naheliegende Vermutung, dass der Gedanke einer freiwilligen Selbstbeschränkung beim Durchschnittsdeutschen noch nicht angekommen ist. Man muss doch nur mal nach „Fuck you Greta“-Bilder googlen, schon sieht man, wie weit die Autogesellschaft noch von einem Klimakonsens entfernt ist.

Oder ist der SUV-Boom nur ein letztes Aufbäumen vor der Klimavernunft, eine Art Polterabend, so wie man es 1914 vor Kriegsbeginn noch mal hat ordentlich krachen lassen? Wir sollen in zehn Jahren ja keine eigenen Autos mehr haben, ein Alptraum für uns als schlechteste Beifahrer der Welt. Da wollen wir uns es noch mal gut gehen lassen. Harald Welzer vermutet sogar prinzipiell: „Deshalb läuft der [Neo-] Extraktivismus unter kapitalistischen Bedingungen gerade dann immer schneller, wenn das Ende der Fahnenstange in Sicht ist. Also gilt es, jetzt noch so viel wie möglich herauszuholen.“ [1]

Dies beruht jedoch auf dem Irrtum, dass Vernunft und Klimaschutz unbequem und einschränkend sein muss und wird die Zukunft nicht ohne Freuden, Individualität und kleiner Laster genießen dürfen. Nur mal für die Autofans: Wer mal einen Tesla gefahren ist, will nie wieder Verbrenner. Bei Tesla aber auch Volkswagen ID steht die Individualisierung an vorderster Stelle.

Oder um Marc-Uwe Kling zu zitieren:  „Ja, wir können was gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich die Wissenschaftler doch vertan haben, und es gar keine Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken, und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. Da würden wir uns schön ärgern.“ [2]

Und „wenn sich nichts ändern soll, dann muss sich alles ändern“, ein unter Klimaaktivisten beliebes Zitat von Tomasi di Lampedusa aus dem Jahre 1959.

Je mehr wir offen und aktiv den Veränderungen angehen, wenn wir also Verändern, und nicht nur verändert werden, umso mehr wird der Wandel in unserem Sinne verlaufen. Und umso mehr werden wir unseren Kindern eine Zukunft hinterlassen, die von unserer Kultur und unseren Werten geprägt ist.

Das was uns am meisten daran hindert ist der unvollständige Klimakonsens, aber vor allem die unsägliche Trägheit eine parlamentarischen Demokratie, die jedoch, wie wir seit Winston Churchill wissen „die schlechteste aller Regierungsformen [ist], abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“

Oh, schon sieben Uhr, jetzt aber aufstehen. Und die Welt retten…

[1]: Harald Welzer: Selbst denken. 8. Aufl., Frankfurt 2017, S. 93
[2]: Marc-Uwe Kling: Die Känguru-Apokryphen. Berlin 2018

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